Organismus - Bewusstsein - Symbol
Perspektiven mentaler Gestaltungsprozesse
Edlinger K., W. Feigl & G. Fleck (Hrsg.):
P. Lang - Europ. Verlag der Wissenschaften. 2002

Sensomotorisches Kontinuum und die Eigenart des Menschen

Evolutionstheoretiker erheben den Anspruch, Phänomene des Lebenden inklusive dessen, was man subjektives Erleben nennt, sowohl in ihrer Entstehung als auch in ihrer Funktion beschreiben zu können. Die konkreten Mechanismen subjektiven Erlebens anzugeben, sind die kognitiven Neurowissenschafter sowie Evolutionäre Psychologen und Erkenntnistheoretiker berufen.

Als vermittelnde Ebene zwischen Verhaltens- Neuro- und Kognitionswissenschaften bietet sich die Sensomotorik (SM) an, da Wahrnehmen und (Selbst-) Bewegung bei Tieren und Menschen über gleichartige Strukturen und Prozesse laufen.

Sensorik und Motorik können funktionell nicht getrennt werden. Ein Beispiel dafür: Wenn wir etwas ansehen, sind immer mindestens 10 Muskeln tätig: Augenmuskeln rütteln ständig die Augäpfel, ohne diese kleinen Zitterbewegungen könnten wir ruhende Objekte vor uns gar nicht "fixieren". (Nur Menschen und andere hoch entwickelte Primaten können auf Objekte reagieren, die sich nicht bewegen).

Die funktionelle Geschlossenheit der SM umfasst nicht nur das eigene neuro-mechanische Nerv-Muskel-Körper-System mit Binnenrückmeldungen (Propriozeption), sondern in erweiterter Form auch alle Inter-Aktionen mit Objekten, Medien und anderen Individuen.

Die letztgenannte, neuro-soziale Dimension ist dabei noch wichtiger als die neuro-mechanische, da in der Wirbeltierevolution die ersten lebenswichtigen Gegenstände für Tiere andere Tiere waren (hinfort: Andere).

Seit den ersten (Raub-) Fischen sind Partnerwahl, Konkurrenz, Flucht oder Jagd nur dann erfolgreich, wenn die Merkmale des/der jeweiligen Anderen blitzschnell erkannt und kategorisiert (emotional bewertet) werden, um in adäquate (motorische) Re-Aktionen zu münden.

Die in den Verhaltenswissenschaften übliche Scheidung sozialer (innerartlicher) von zwischenartlicher Interaktion macht für die genannten Funktionskreise wenig Sinn, denn Aktion, Reaktion und Re-Reaktion können sich in beiden Bereichen überschneiden oder gleichzeitig ablaufen (Streit um Beute, zwischenartliches Spiel).

Weiters müsste anerkannt werden, dass die Bewegungswahrnehmung die Verbindung zwischen den Individuen herstellt: Im sensomotorischen Kontinuum (SMK) reizt die Motorik (das Verhalten) des Einen die Sensorik des Anderen.

Oft werden sogar Bewegungsqualitäten Anderer zur Steuerung der Eigenbewegungen übernommen. Bei Greifbewegungen z.B. wurden Spiegel-Neurone nachgewiesen, die bei der Erzeugung von (Eigen-) Bewegungen feuern, aber auch bei der Wahrnehmung der gleichen Bewegung von Anderen. Sie zeigen, dass Verhalten und Wahrnehmen auch anatomisch untrennbar sind. Ihr Ursprung ist noch nicht geklärt, stammesgeschichtlich bietet sich das Interaktionsfeld zwischen Räuber und Beute an, im heranwachsenden Einzelindividuum die unverzichtbaren Spielphasen (Rollenwechsel).

Kompetenz für alle sozialen Interaktionen ist also ältestes Tiererbe, nicht späte Errungenschaft der Menschwerdung. Nonverbale Kommunikation (NVK) heisst die Ebene, auf der wir uns wie die Tiere interaktiv verhalten.

Auch unsere Sprache kann nur über ihre Tiefenstruktur wirken, und die liegt in der Ebene nonverbaler Zeichen: "meaning is an event, language does not mean by itself". (H. Ruthrof, 2000)

Hat nun der Mensch eine eigene Qualität? Was ist seine Eigen-Art? Wie zu zeigen sein wird, eine zusätzliche Domäne der Selbstwahrnehmung, die den Bezug zum eigenen Körper gegenüber allen anderen Körpern unterscheiden kann - in mindestens drei Sinnesmodalitäten.

Das "Herausschneiden" des eigenen Körpers aus dem SMK, in dem Tiere leben, ist übrigens schon ein Artefakt, ein Produkt der menschlichen Eigen-Qualität. Wir Menschen unterhalten nach jeweiliger kultureller Prägung ein raumzeitlich strukturiertes, konzeptionelles Weltbild, in dem wir durch "willkürliche" Unterscheidungen Subjekte, Objekte, Hintergrund, Medien etc. abgrenzen und mit Eigenschaften und Begriffen wie Anfang und Ende belegen. Die Erlebens-Welt der Tiere könnte dagegen perzeptuell organisiert sein (s. Anhang).

Neben (über?) dem sensomotorischen Kontinuum haben wir eine Ebene menschlicher Eigen-Art, die in der doppelten Wahrnehmung von Eigenbewegung liegt: Eine Re-Afferenz (Bewegungs-Rückmeldung) hilft die Bewegung steuern, die andere sieht gleichsam von aussen zu - oder das Auge steuert und die Propriozeption hat frei - schon kann ein Funktionswechsel aus der Tätigkeitsbegleitung eine neue Erlebnisqualität machen.

Die erste Quelle dafür findet sich - für Neurowissenschafter wenig überraschend - in den freien Handbewegungen im eigenen Blickfeld. Dieser sensomotorische Kreisschluss hat den sogenannten Auge-Hand-Komplex gebildet. Seit der Aufrichtung der Affen zu Hominiden hat sich diese spezielle Interaktion ausreichend lange und häufig abgespielt, um anatomisch und funktionell mehrschichtig, vielleicht auch relativ autonom zu werden.

Greifbewegungen werden als "prehensile skills" weltweit in vielen Labors untersucht, sowohl an Rhesus-Makaken als auch an Menschen. Dabei wurden diese "an sich" "evidenten", aber evolutionär und neurobiologisch einzigartigen Bedingungen bisher nicht auf die doppelten Afferenzen hin untersucht, die sie erzeugen. Die erwähnte Begleit-Erlebnis-Funktion muss auch nicht dauernd am Entstehungsort nachweisbar sein, wenn sie sich auf andere Tätigkeiten ausgedehnt hat - oder übertragen wurde.

Der elementare Akt der menschlichen Kognition, die Spaltung in einen Handelnden und (s)einen Beobachter, hat mit der Hand begonnen. Hände sind Subjekt und Objekt zugleich: Als eigenartig-lebhafte und treu-begleitende Gegenstände tauchen sie immer wieder in der Umwelt auf und verhalten sich so vertraut wie noch kein Ding (oder Anderer) in der Stammesgeschichte zuvor.

"Das m.E. Entscheidende an dieser Hypothese ist der dynamische Aspekt. Die Zugehörigkeit des Teils zum Ganzen wird nicht durch Analyse, Zerlegung erkannt, sondern aus der übereinstimmenden Bewegungsweise. Könnte das Gehirn nicht seine Erregungs-muster wiedererkennen, wäre Repräsentation des Einen im Anderen, wäre Identifizierung und Vergleich nicht möglich."
(s. "Das Ganze und seine Teile").

Der Schluss auf Eigen-Zugehörigkeit kann aber kaum rein visuell erfolgt sein, da die Augen nicht allein eine eigene von einer fremden Hand unterscheiden können. Ein am Greifvorgang beteiligter, unmissverständlicher Modus hat sich dazu angeboten, obwohl unsichtbar, stellt er die zweite Quelle der Eigenqualität dar.

Diese kommt aus dem doppelten Berührungs-"Echo" bei Selbstberührungen. Taktil reizt sich die berührende Hand notwendigerweise selbst, die berührte Hautstelle meldet sich aber nur innerhalb desselben Nervensystems als zweite, zeitlich/räumlich mit der Hand kontingente Reafferenz. Der dadurch qualitativ eindeutig gewordene Unterschied zwischen dem eigenen und einem anderen Körper wird innerhalb der Primatenevolution begriffen worden sein, wahrscheinlich angeleitet von Parasiten, die im eigenen Fell sowie im Fell von Anderen zu suchen waren (s. "Du hast dich selbst längst erkannt").

Gründe für die geringe Akzeptanz des skizzierten (1986,1989,1998a,1998b) Ansatzes sind: Erstens zeigen viele Wirbeltiere (Insekten sollen hier nicht betrachtet werden) "prehensile skills", laut Iwaniuk & Whishaw (2000) sogar Amphibien. Hier müßte akzeptiert werden, daß die "Objekte" in den "Händen" von Tieren entweder Nahrung oder Mittel zum Nahrungserwerb sind; und daß dabei die "Hände" als solche, d.h. ohne Nahrungs- oder Putzkontext, nur kurzzeitig ins Zentrum der Aufmerksamkeit oder des Blickfeldes gehalten werden. Sie sind dabei sicher kein "Gegenstand der Betrachtung". Zweitens könnte es sein, dass Bewegungsphänomene Qualitäten haben, die einfach nicht beschreibbar sind und/oder dass der Erkenntnis-Prozess durch Nichtprozesse prinzipiell unerfassbar bleibt. (Fürlinger 2001).

Eine dritte Quelle doppelter Reafferenz bieten die Resonanzphänomene bei der Phonation, über die Kehlkopfmuskeln selbst und die Knochenleitung zum Innenohr laufen schon zwei Rückmeldungen. Analog der visuellen Handwahrnehmung hat auch die vokal/akustische Domäne eine Exafferenz (Aussenrückmeldung), denn bis auf Gehörlose hören sich ja alle Stimmproduzenten selbst.

Ob und wie sich die drei genannten Quellen zu einem einheitlichen "Selbster-kennen" gebündelt haben, lässt sich ohne gezielte empirische Untersuchungen nicht sagen.

Literatur:
Fürlinger A, 1986: "On Concepts of Cognition in Biology", Cognitive Systems 1-4 (abstract s. Anhang II)
Fürlinger A, 1989: "Eins; Zwei; Drei" In: Das Ganze und seine Teile, Internationales und interdisziplinäres Symposium, Hg.: Walter A. Koch, Studienverlag Dr. Norbert Brockmeyer, Bochum
Fürlinger A, 1998a: "Andere sind das Ziel" In: Identität/Identity/Identité, Hg. Bernard J.& Withalm G. Wien, ÖGS (Österreichische Gesellschaft für Semiotik)
Fürlinger A, 1998b: "Locomotion and Cognition", Proceedings of the 26.th Göttingen Neurobiology Conference, Hg. Elsner N & Wehner R. Georg Thieme Verlag, Stuttgart, Vol. 2, 85 (poster s. Anhang III)
Fürlinger A, 2001: "Is Movement the highest code?" Proceedings of the 1st Gathering in Biosemiotics, Copenhagen 2001 (in Vorbereitung)
Iwaniuk AN & Whishaw IQ, 2000: "On the origin of skilled forelimb Movements", Trends in Neuroscience, Aug; 23(8):372-6.
Ruthrof H, 2000: "The body in language", Cassell, London, New York (Zitat aus Vortrag/Weltkongress für Semiotik, Dresden 1999)

Anhang

Die Situation im SMK:
Verhalten ist im Wesentlichen sozial, interaktiv. Für Tiere werden Situationen von Anderen eröffnet und spezifiziert. Nervensysteme perzipieren wahrscheinlich nur Anfänge von Situationen, von der (über Fernsinne gesteuerten) ersten Bezugnahme über arttypische Interaktionen (Jagd, Partnerwahl, Ritual, Kampf) bis zur Trennung oder taktil/mechanischer Kontaktnahme (Fressen, gelungene Flucht, Kopulieren, Unterwerfung). Die letzte Stufe interaktiven Verhaltens, "das Ziel" ist chemische Verschmelzung (von Gameten oder verdauten Molekülen). Es findet sich ebenso ausserhalb, unter der Perzeptionsschwelle des NS wie sein Beginn zwischen Aktin- und Myosinfilamenten.....

 
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