Jeff Bernard, Gloria Withalm (Hrsg.)
Identität / Identity / Identité
Akten des 7. Symposiums der ÖGS, Sigharting 1990
Wien, ÖGS, 1998

Andere sind das Ziel
Über Sensomotorik, Mimesis und Endoneurologie

     Einleitung
  1 Natürliche Kategorisierung
  2  Die erste Sekunde
  3  Über die Grenzen individuellen Verhaltens
  4  Exkurs über Stabilität
  5  Verhalten als Drei-Körper-Problem
  6  Blickverhalten
  7  Exkurs: "Endo-neurologie"
  8  Lokomotion macht Geschichten
  9  Die flüchtige Gestalt
10 Verfolgen: Die erste mimetische Fertigkeit
11 Der Griff
12 Alles ruht?
13 Mimesis Typ II
14 "Woman is ... the first real mover"
(C. Paglia 1990)
15 Du hast dich selbst längst erkannt
      Epilog
      Danksagung
      Literatur

Zusammenfassung

Anhand eines stufenweisen Zurückschreitens durch die Wirbeltierstammesgeschichte (Phylogenese, Kap. 1) und durch die Analyse der ersten Sekunde einer Verhaltensepisode (Aktugenese, Kap. 2) wird gezeigt, daß sowohl das Ur-Subjekt als auch das Ur-Objekt selbstbeweglich waren und daß daher Interaktionen, wohl meist dyadische, die ersten wie wichtigsten Nervensystemfunktionen darstellen. Auch für die frühe Individualentwicklung (Ontogenese) dürfte das Prinzip der Interaktivität gelten (Kap. 14). Als gemeinsame Beschreibungsebene für äußeres, inneres sowie interaktives Verhalten bietet sich die Sensomotorik an (Kap. 3). Die Untrennbarkeit von Wahrnehmung und Fortbewegung bei den Wirbeltieren bis zu den Primaten verlangt eine Aufwertung der Bewegungsmechanik-Sinne neben oder über den Sehsinn, dabei werden Lotrechte und Blicklinie durch Nachführen des Körpers kanalisiert (Kap. 5, 6). Das neue Konzept einer Endoneurologie macht den Versuch, Kognition zu verkörpern, d.h. Nervenfunktion, Körper und Umwelt gemeinsam darzustellen (Kap. 7). Interaktives Verhalten wird durch gekreuzten Bewegungsmustertransfer zwischen den Teilnehmern charakterisiert, die Fähigkeit zum Nachmachen und das Gestaltphänomen ergeben sich daraus (Kap. 9, 10). Es folgen Spekulationen über die Aufrichtung (Kap. 11, 12) und die Rolle von Parasiten im Sozialverhalten der Primaten (Kap. 13). Ein naturphilosophischer Exkurs zu den Begriffen Fläche, Linie und Punkt (Kap. 4) ergänzt das Hypothesengebäude über die frühen Grundfunktionen unseres Nervensystems.

Einleitung

Für Evolutionsgläubige ist die Frage nach der Menschwerdung aus dem Tierreich eine der faszinierendsten. Evolutionsbiologie, Verhaltensforschung und die Neurowissenschaften suchen nach Erklärungsmechanismen, haben sich aber noch nicht auf gemeinsame Antworten geeinigt. In diesem offenen Forschungsfeld macht die vorliegende Arbeit den Versuch, die Steuerung von Wirbeltierverhalten ent-anthropomorphisiert, möglichst ohne unnötige Vermenschlichung, zu beschreiben. Ein Beispiel: "Handlungen" sind erst mit den Affen entstanden, von den Fischen bis zu den Vierbeinern wurde mit dem Maul manipuliert.
Das Welterleben von Tieren ohne große Gehirnrinde ist uns unzugänglich, vermutlich ist es qualitativ anders als unseres. Dennoch lassen sich für die Bereiche vor der menschlichen Kognition (zu denen auch unsere vorgeburtliche Entwicklung zählt), Gesetzmäßigkeiten der Verhaltenssteuerung aus den neuromechanischen Zwängen der jeweiligen Situation rekonstruieren.

1 Natürliche Kategorisierung

Zur (Stammes-)Geschichte objektgebundenen Verhaltens

Die lebenswichtigen Objekte der Tiere sind nicht nur inhomogen in ihrer Umwelt verteilt, "patchy", sondern sind fast immer andere Organismen, meist bewegliche andere Tiere (hinfort "Andere"). Da bei uns Menschen anscheinend die Suche nach unbelebten Ressourcen im Vordergrund steht (Geld, Wohnung, Auto etc. ), müßte zuerst geklärt werden, ob das Nervensystem (NS), das seit Jahrhundertmillionen alle Umweltbeziehungen hergestellt hat, nicht in der Interaktion mit unbelebten Umweltelementen seine Hauptfunktionen erworben hat.
Methodisch als eine Art Frage-Antwort-Spiel konzipiert, soll nun von unseren Objekten in der Gegenwart ausgehend bis ins Paläozoikum zurückgeschritten werden, um zu den "Urobjekten" bzw. ihren Eigenschaften zu gelangen.
— 1. Aktuell-situativ gefragt: "Was ist ein Objekt für Dich, hier und jetzt?"     Aufzählung aller möglichen Dinge, eventuell: "Gibt es ein Mittelding?"
— 2. Individualgeschichtlich gefragt: "Was ist ein Objekt jemals gewesen - für     Dich: Erstes, häufigstes, wichtigstes?"
    Vielleicht halten sich im "Hier und Jetzt" Personen und Dinge die Waage, geht     man aber im eigenen Leben zurück, könnten in der Kindheit Geschwister,     Kuschel- oder Haustiere das Auto, den Kugelschreiber oder das Weinglas an     Bedeutung überflügeln. Anschließend kann
— 3. ethnologisch, anthropologisch gefragt werden: "Was sind Objekte jemals     gewesen - für andere Menschen, Bekannte, Europäer, Artgenossen; erstes,     häufigstes, wichtigstes?" Die erste
— 4. historische Fragestellung lautet dann: "Was sind bzw. waren Objekte für     die - Großeltern, Urahnen, "Ötzis"?"
    
Im ethnologischen Feld sowie beim geschichtlichen Zurückschreiten könnten     sich Schmuck, Haustiere, Früchte und Waffen sowie Feinde als wichtig     herausstellen. Aber der Großteil der Geschichte fehlt noch, wenn wir     "Evolutionäre Psychologie" betreiben wollen. Fragen wir uns
— 5. "prähistorisch", nach - Eiszeitmenschen, frühen Hominiden - und
— 6. "stammesgeschichtlich": "Was machen - Primaten... Säugetiere...     Reptilien... Fische... erste Tiere"?

Für die Zeiträume vor der präziser dokumentierten Geschichte muß Spekulation unser Wissen ergänzen: Tragen frühe Hominiden neben ihren Kindern vielleicht noch Stöcke und Steine zum Nahrungszerkleinern, so gehen z.B im Tier-Mensch-Übergangsfeld Waffen und Instrumente verloren, Affen hantieren fast nur mehr mit ihresgleichen, Eßbarem, dem Boden und Bäumen.

Vierbeinige Säugetiere manipulieren fast nur mehr mit dem Maul, tragen nur Beute und Junge. Ihre Objektkategorisierung nach Wichtigkeit könnte Feinde, Beutetiere (auch Blätter, Früchte etc.), Junge, Partner, andere Artgenossen, Wasser, Höhlen und alle anderen Tiere umfassen, der Rest sind primär neutrale Biosphären-Elemente, nützlich oder hinderlich erst bei der Fortbewegung.

Bei noch früheren, "niederen" Wirbeltieren, etwa Haiartigen, wird es noch einseitiger, denn alle ihre Objekte sind Andere oder Teile von solchen: Feinde, Nahrung, Partner, Konkurrenten. Was sich nicht bewegt, wird oft nicht bemerkt.

Pflanzenfresser-Arten und/oder -Stadien in der Stammesgeschichte ändern nichts am Zwang für jedes einzelne Individuum, immer wieder bewegliche Ziele im Auge zu behalten. Zumindest der Partner, Rivalen und die Feinde waren selbstbeweglich (und ohne erstere die Stammesgeschichte zu Ende).

Fazit:

1. Neurophysiologie ist als "Soziophysiologie" entstanden

(Ein NS ist an und für sich kaum zu erklären, auch kaum zu verstehen)

Das NS ist nach wie vor ein Bewegungssystem, es erzeugt Bewegung und es reagiert vor allem auf Bewegung, weniger auf (statische) Form. In der Stammesentwicklung hat die ununterbrochene Wechselwirkung mit der nicht verhaltensbewegten Umwelt die Leistung der NS ungleich weniger gefordert, gefördert und geformt als die vergleichsweise kurzzeitigen interaktiven Verhaltensweisen. Das "Hauptinteresse" von NS galt daher lange nicht einer stabilen, bewegungslosen Erde (siehe Kap. 12). Die frühen NS mußten primär ihre Bewegungen und ihre Beziehung zueinander koordinieren, diese auf Kosten einer ruhenden Umwelt stabilisieren.

Bei interaktivem Verhalten treten die beteiligten NS über die Wahrnehmung von Bewegungseffekten direkt miteinander in Kontakt und bilden ein sensomotorisch gekreuztes System: Das Verhalten (die Motorik) des einen steuert über die Sensorik des Anderen die Verhaltensmotorik des Anderen - und umgekehrt.

Für ein NS wird also der adäquate Reiz von einem anderen NS erzeugt, ein NS braucht sozusagen ein anderes, um seine eigenen, wichtigen, "richtigen", "höheren" Funktionen zu realisieren und auszuleben. (Katz´und Maus, Katze und Hund, Katze mit Kater).

Oder, nach R. Ashby (1970): "Every good regulator of a system must be a model of that system":

Das oberste Wahrnehmungs- und Verhaltenssteuerungszentrum, der Homunkulus der Kognition ist das Verhalten der/des anderen. Andere sind die ersten "Trainer" oder die (stammesgeschichtlich) angeborene Lehrmeister - bis der Neocortex diese Rollen übernehmen konnte.

So betrachtet ändert sich die Darwinsche Einteilung in natürliche Selektion und geschlechtliche Zuchtwahl zu Kategorien der Nervenfunktionen: Beute/Räuber-Interaktion, Artgenossen- und Partnerinteraktionen.

2. Tiere haben kein (leeres) Raumkonzept

Tiere kennen kein Medium wie Wasser, Luft oder Licht, keine freie Distanz und daher keinen (Zwischen-)Raum. Ob sie ein von sich getrenntes Objekt konstituieren können, ist somit fraglich. Eher ist anzunehmen, daß die Verhaltenssteuerung von Tieren als durchgängige Sensomotorik, also ohne Ich- und Identifikationsgrenzen abläuft (siehe Kap. 3). Ihre Fernsinne müßten dann wie Nahsinne arbeiten, z.B. würde das Verhalten eines Anderen nicht in unserem Sinne gesehen, sondern im Auge "kitzeln", für uns eigentlich unvorstellbar.

3. Unser alltäglicher und wissenschaftlicher Objektbegriff

Die ursprünglichen Kategorien Beute, Feind, Partner und Neutrale(s) beherrschen zwar noch immer unsere Emotionalität, das Alltagsobjekt schlechthin ist aber einfachheitshalber meist starr und unbewegt (Tisch). Es fehlt ihm die ursprünglich objektkonstituierende Qualität, nämlich Bewegung. Unsere Nahrung bewegt sich nicht und Raubfeinde sind entfernt, zwei der wichtigsten Reizgruppen für Spontanverhalten wirken damit im modernen Menschen nicht mehr. Pseudobelebte Objekte faszinieren uns (Fußball, PC), und oft haben wir es mit Zeichen für Bewegung zu tun, z.B. mit Schrift als Bewegungsspur (siehe Kap. 8), in unserer Umgebung überwiegen aber leblose Artefakte.

Die Bühne unseres Einzellebens ist also vollgestopft mit Kulissen, Versatzstücken und Requisiten. Die Situation ändert sich erst, wenn Andere auftreten: der Chef betritt das Büro oder eine Fliege summt in unserer Nähe. Es tut sich eine Bühne in der Bühne auf, denn Andere verzaubern die Szene - bis sie identifiziert sind.

2 Die erste Sekunde

Sensomotorische Kognition in lebenswichtiger Situation ("Aktugenese")

Unter der Annahme, daß die ersten Fische unserer Abstammungslinie
räuberisch gelebt haben, dabei sicherlich
Konkurrenz aus der eigenen und von anderen Arten, vielleicht auch schon
Feinddruck ausgesetzt waren, daneben aber auch
sexueller Konkurrenz und Selektion,

hat sich reflexschnelles Reagieren für alle diese vitalen Situationen bewährt, auf Verhaltens-"Anzeichen" hin.

Bevor es zum Beute- oder zum Sexualkontakt kommt bzw. bevor es überhaupt zur Jagd oder zur Partnerwahl kommt, muß der mögliche Beziehungspartner auf Entfernung entdeckt und die Beziehung hergestellt werden, da Andere oft ihre Präsentation (oder auch nur Ortung) vermeiden.

Ein allererster Mechanismus filtert aus dem vielfältigen,
multisensorisch-(eigen-)motorischen "Lärm" einen Geruch, ein Geräusch oder eine Bewegung mit "Hinweischarakter auf relevante Andere" und richtet den Fokus der visuellen Aufmerksamkeit, Augen, Kopf und Körper in Richtung der Quelle. Die Richtung wird mit Peilung festgestellt, z.B. bringt erst die symmetrische Erregung beider Ohren das "Ziel" ins Blick-Suchfeld. Analog dem bekannten Cocktailphänomen filtert emotionales Gestimmtsein bzw. Appetenz das Gewünschte aus dem viel reichhaltigeren Angebot, indem es Eigenaktivitäten hemmt und sensorische Schwellen ganz spezifisch modifiziert.

Daten zur Aktugenese sind rar. Unter Experimentalbedingungen sind die in freier Natur weitverteilten Reizquellen schwer simulierbar und im freien Feld scheint eine "kognitive Unschärferelation" zu gelten: ein Ethologe wird leicht selbst zum relevanten Anderen.

Die nächstfolgenden Mechanismen müssen sowohl qualitativ als auch quantitativ verhaltensentscheidend wirken. Auch wenn schon der allererste geruchliche oder vokal-akustische Eindruck Aufschluß über die Gruppen-, ja individuelle Identität des Verursachers gebracht hat, müssen als nächstes Lokalisierung (Richtung plus Distanz), Bewegungstyp und Größe der "Ur-Sache" erfaßt werden.

Andere sind Objekt und Ereignis zugleich. Auge und Ohr können mit ihrem Bewegungsmuster-Erkennungsvermögen Weg(distanz) und Ziel(qualität) nebeneinander und gleichzeitig perzipieren. Die primären Dichotomien lauten "Feind: ja/nein" und "Beute: ja/nein". Sie stellen die Motorik auf "vorwärts", "rückwärts" oder "Abwarten" ein. Emotionen sind dabei der Servomechanismus, der die bereitstehende Stoffwechselenergie auf breiter Front, in Millisekunden in Einsatz bringt oder hemmt.

Bei Tieren entscheiden die dynamischen Merkmale, globale Bewegungsqualitäten wie Beschleunigungsart und -richtung. Beutetypische Bewegung genügt, oder feindtypische, um das interaktive Wechselspiel ohne Überlegung in Gang zu bringen.

Menschen brauchen zur Kategorisierung und Identifizierung von Objekten eher statische Eigenschaften, deren Wahrnehmung und Vereinigung zu einem Begriff mindestens eine halbe Sekunde kostet. Bei Tieren sind in dieser Zeit viele Kämpfe ums Dasein schon dem Ergebnis nach entschieden, viele auch schon beendet.

Die Entdeckungssituation erfaßt aber (in Millisekunden !) nicht nur den gesamten eigenen sensomotorisch-emotionalen Apparat, die eigene Reaktion kann zur ebenso raschen gegenseitigen Identifikation führen. Aktion, Re-aktion, Re-re-aktion werden dann so eng ineinandergreifen, daß vom ersten Blick an beide Seiten in einem System gefangen sind: Motorik des Einen stimuliert die Sensorik des Anderen, mobilisiert seine Motorik, diese stimuliert wieder die Sensorik des Einen, usw.

Dieser Metakreislauf der Reiz-Reaktions-Folgen ist nicht wie ein Dialog, als Kommunikation, als Frage-Antwort-Spiel zu beschreiben. Für Codierungen sind die Zeiträume zu kurz und in der Interaktion überschneiden sich die Intervalle. Es ist ein reflexschneller Wettlauf der Sensomotoriken auf Leben und Tod. (Bei der Partnerwahl findet ein - eher langsamerer - Tanz statt, aber mit ebenso exakter Mikrosynchronisierung der komplementären Bewegungsmelodien).

"Emergency reaction" heißt wörtlich überrasches Auftauchen und unmittelbarer Reaktionszwang. Die erste Phase der Interaktion von Sensomotoriken ist der Höchstleistungsmechanismus nervöser Funktion und als solcher einer der Kernmechanismen natürlicher Selektion überhaupt. Es wäre auch schwer einzusehen, daß sich für jeden der anfangs aufgezählten Kontexte ein eigener neuraler Mechanismus (Modul) entwickelt.

Bei der Jagd werden Individuen zwar gejagt, aber nicht erkannt.

Individuelle Identifikation findet nur im innerartlichen Bereich statt, als Partnerwahl und männliche Konkurrenz im Kontext sexueller Selektion und ab den Säugetieren (und Vögeln) als Lehr- und Lernverhältnis in der eusozialen Brutpflege. (Im Verhältnis zu den Jagd- und Fluchtkontexten vergleichsweise in Zeitlupe).

Die ersten "vollständig erkannten Individuen" in der Stammesgeschichte könnten übrigens Männchen gewesen sein, da sie sowohl von Weibchen als auch von konkurrierenden Geschlechtsgenossen unter Fitnessaspekten, d.h. auch "ganzkörperlich-dynamisch" betrachtet werden. Für die karge Ressource, die Weibchen für Männchen darstellen, genügen attraktive Einzelmerkmale.

3 Über die Grenzen individuellen Verhaltens

Fragmente einer erweiterten Nerven-System-Theorie

1. Ein Gehirn ohne periphere Nerven ist ein Artefakt
2. Ein Nervensystem ohne Muskeln ist unfähig zur Bewegung
3. Ein Nerv-Muskel-Präparat kann ohne kohärente Körpermechanik nur zucken
4. Ein Tier ohne Umweltwiderständigkeit bleibt immobil
5. Ein mobiles Tier hat ohne Andere niemals ein Ziel.

ad 1: Sensomotorik

Wie das Herz ist das Gehirn auffälligster Teil eines Kreislaufsystems. Harvey hat gezeigt, daß die Riesenmenge Blut, die das Herz passiert, nicht im Körper verbraucht und neu gebildet werden kann. Auch im Nervensystem werden die Riesenmengen an motorischen Impulsen und sensorischen Erregungen nicht unabhängig voneinander produziert und verbraucht, bei Tieren in Bewegung werden sensorische Erregungen primär von der eigenen Motorik verursacht.

Die individuelle Sensomotorik arbeitet als funktioneller Kreislauf, das durchgehende Prinzip sind Wirk-Muster. ("Muster stehen zwischen Chaos und Ordnung", C. Bresch 1977).

Wirkmuster sind die Übertragungseinheiten, sie durchwandern und wechseln dabei ihre Trägerstrukturen, dafür behalten sie aber ihren zeitlich-räumlichen Wirkzusammenhang bei. Die dynamischen Charakteristika der Muster, z.B. Rhythmus und Melodie, schließen die Umwelt in den Funktionskreis ein: Motorikmuster » Bewegungsmuster (entsprechend Beziehungsänderungen seitens der Körperteile bzw. Umweltteile) » Sensorenzustandsänderung » Sensorikmuster » ZNS » Motorik usw.

ad 2: Ohne Muskeln gäbe es kein Nervensystem

Da die ersten Muskelzellen noch selber erregbar waren, müßten auch alle späteren Sensorensysteme letztlich dem (An-)Trieb dienen. Muskeln setzen die linear-exekutiven Erregungsmuster in analoge Zug- und Druckeffekte um, die Wirkmuster divergieren im Körper. Zum Teil betreiben sie die Festkörpermechanik des Skelettsystems als Stützen, Hebel, Zange etc., zum Teil münden sie in die nichtfeste "wetware", die ihren eigenen, hier selten gewürdigten Gesetzlichkeiten folgt (siehe nächster Punkt).

ad 3: Konstruktions-Morphologie

Ein Individuum ist unteilbar in dem Sinne, daß Eröffnung seiner Hohlräume den Tod bewirken kann. Sein kohärenter Körperverbund gehorcht, von der einzelnen Zelle bis zum reißfesten Hautsack der Wirbeltiere, dem hydraulischen Prinzip, das den mechanischen Versteifungen sowohl unter- als auch übergeordnet ist (W. Gutmann 1988). Peristaltik, Atmung, Greifbewegungen, eine Umarmung können nicht linear-kausal beschrieben werden, erst die unhierarchische, aus allen Richtungen konvergierend gleichen Gegendruck vermittelnde Hydraulik, die ineinander eingesackten Kompartimente geben dem üblichen Marionettenmodell der Wirbeltiere Ganzheitlichkeit, Masse und gefüllte Form. Tiere sind nicht flächig modellierbar.

ad 4: "Muskel bewegt die Welt" (R. Granit 1977)

Innerhalb der Biosphäre hat jede Körperoberfläche eine Grenzfläche zu den Umgebungsmedien wie Wasser, Luft und/oder Boden. Sich bewegende Körper werden Wechselwirkungen hevorrufen, geringe mit der Luft, aber auch unnachgiebige mit dem Erdboden. Eine wichtige Wechselwirkung für Tiere bringt ihre Lokomotion hervor: Die Lokomotorik bewegt das gesamte Gewicht des Körpers. Aber wenn sich ein Körper bewegt, bewegt sich relativ zu ihm auch seine Umgebung: Für die tierische "Lokosensorik" bewegt sich die ganze Welt.

ad 5: Für Tiere grenzt das eigene Verhalten an das der Anderen

Wenn zwei Tiere sich bewegen und ihre Umwelten dabei verschieben, dann wird aus der Erde und den zwei mobilen Tieren auf ihr ein Dreikörpersystem, in dem es keinen Punkt in Ruhe gibt. Die visuelle Welt zwischen Tieren gehört funktionell für sie zum je eigenen Körperbewegungssystem. Andere sind von vornherein ein Element der lokosensorisch bewegten Welt, ruhend können sie als Teil dieser (Um)Welt unsichtbar bleiben. Erst ihre Eigenbewegung wird auf sie aufmerksam machen und sofort zum kontrastreichsten und informativsten Merkmal werden (s. Kap. 2).

Das heißt: Der Umriß des Anderen ist jeweils die Grenze der unterschiedlichen Bewegungseffekte, nicht die eigene Haut.

Das heißt weiterhin, daß Tiere zwischen sich und Anderen kein Konzept einer ruhenden Welt haben oder brauchen. Für einen menschlichen Beobachter, egal ob er auf der Erde ruht oder sich auf ihr bewegt, ist ebendiese Erde stabil und in Ruhe. Dazu einige allgemeinere Betrachtungen.

4 Exkurs über Stabilität

Zur Entstehung von Fläche, Linie und Punkt

Eine Fläche entsteht zwischen zwei qualitativ verschiedenen, einander begrenzenden Räumen.

Ein Beispiel: die Erdoberfläche. Sie wird sehr kompliziert, wenn man sie genau nimmt und Strukturen wie Bäume samt Blättern einbezieht.

In der Biosphäre ist jede Oberfläche eine Grenzfläche. Sie kann eine Trennfläche sein, ein Interface z.B. zwischen Innen und Außen. Sie entsteht auch oft zwischen hydraulischen oder pneumatischen Kompartimenten, durch gegenseitigen Druck. Als Modell können zwei Seifenblasen dienen, die aneinander "kleben".

Eine Linie entsteht durch konvergenten Druck dreier (annähernd symmetrischer) Kompartimente.

Ein Beispiel: die Küstenlinie. Sie bildet sich zwischen Wasser und Festland und der Luft darüber.

Im Modell: drei Seifenblasen können sich nur in einer Linie treffen.

Bewegung, z.B eine einfache Translationsbewegung, erfordert Kanalisierung. Die lineare oder Richtungs-Determination geschieht durch Druck von außen, die Bewegungs-Linie ist das Produkt mindestens dreifach-seitlicher Einschränkung. Ein Pfeil in Bewegung braucht, wie auch manche Haie zeigen, mindestens drei seitliche "constraints" (Abb. 1, 2).

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Abb. 1              Abb. 2

Um einen (Körperschwer-)Punkt im Raum in Ruhe, stabil zu halten, müssen seine Bewegungsmöglichkeiten allseits eingeschränkt werden. Die für uns denkübliche "Einschachtelung", also Druck aus sechs Richtungen ist möglich, aber mechanisch überdeterminiert.

Um ein makroskopisches Objekt im Raum zu fixieren, braucht Druck nur aus vier Richtungen gleichzeitig und konvergierend ausgeübt zu werden. Um das "unkooperativste" Objekt, eine harte glatte Kugel, festzuhalten, reichen zwei gekreuzte Zangen mit tetraederartiger Druck"flächen"verteilung bzw. -konvergenz aus. Der "Konvergenz-Tetraeder" ist das einfachste Modell für die Stabilisierung und damit auch Manipulation eines Objekts. Er stellt auch das einfachste Hydraulikmodell dar. Der (Ruhe-)Punkt ist vierfach constrained, ein höchstdefinierter Ort.

Will man auf der Erdoberfläche einen Körper ruhen lassen, braucht er drei Standpunkte. Damit sind schon drei mögliche Bewegungsrichtungen "constrained", die nach unten, eine vierte (die nach oben) wird durch das Gewicht, durch den Zug der Schwerkraft, verhindert. Dreibeinige Tische, viele Pflanzen und (meeres)bodennahe einfache Tiere zeigen diese Gesetzlichkeit in ihrer dreifach-radiären Symmetrie. Mehr zu dieser "Raumlogik", einer Spielart der Geometrie, bei A. Fürlinger (1987 u. 1989).

5 Verhalten als Drei-Körper-Problem

In Lokomotion ist der Weg eines Individuums Resultante zweier Attraktoren, eines physikalischen (Gravitation zur Erde) und eines biosozialen (Attraktion, Repulsion durch Andere). Bei einem landlebenden Individuum stehen die Attraktionsziele, die Richtungen zu ihnen, grob rechtwinkelig zueinander: Erde unten, Andere vorne. Das Dreikörperproblem stellt sich von außen, für einen Beobachter als Vierten, ganz anders dar als für ein beteiligtes Individuum von innen.

von außen:      1,2: Individuen                       von innen:
         3: Erde                               (cf. besser: Abb. 10)

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Abb. 3                                           Abb. 4

Das Bauprinzip, mit dem mechanisch, sensorisch und motorisch die Richtungsstrahlen zur Erde und zu Anderen innerhalb des Individuums gemeinsam kontrolliert, geführt werden können, ist die Bilateralsymmetrie: Weg und Ziel liegen in einer Ebene, der virtuellen Ebene zwischen links und rechts.

Darüberhinaus, d.h. auf die Umwelt bezogen, hat jedes Verhaltenssystem seinen eigenen Richtungs-Konstanz-Mechanismus. Schwerkraft und soziale Interaktion arbeiten gleichartig, indem seitliche Abweichungen durch Körperbewegungen innerhalb eines engen Sensorenbereichs gehalten werden. Zuerst ein fester Stand, dann der Blick auf andere (cf. Kap. 6).

Die Beziehung zur Erde ist für einen Landbewohner dann ruhestabilisiert, wenn die Lotrechte (die Verbindungslinie der Körperschwerpunkte beider Körper) innerhalb ihrer Kontaktflächen gehalten wird. Jeder Schwerpunkt stellt die Spitze einer Stabilitätspyramide dar, "auf" einer gemeinsamen Kontaktfläche, d.h. auf minimal drei (Eck-) Punkten:

1 Individuum
3 Erde
  
    Andere04.jpg
           Abb. 5

Dies gilt auch für alle Körper, die auf Stelzen ruhen, z.B. (vom Inneren der Erde aus gesehen):

Andere05.jpg   Andere06.jpg   Andere07.jpg
Abb. 6                Abb. 7                  Abb. 8
2-Beiner              1-Beiner           Zehensteher

Während der Lokomotion kann sich die Lotrechte kurzzeitig außerhalb, meist vor der Kontaktfläche befinden; um einen Sturz zu vermeiden, muß sie aber "eingefangen" werden, beim Stehenbleiben der Menschen zB. durch Zurücklehnen oder einen längeren Schritt.

Der Zwang zur Geschwindigkeitserhöhung z.B. bei der Jagd führt durch "run-away selection" für schwimmende Körper zur Stromlinienform, bei landlebenden zur Verkleinerung der Kontaktflächen und Verminderung ihrer Anzahl.

Die Extremform der Fortbewegung zu Lande wäre die lineare Aneinanderreihung von Kontaktpunkten wie beim Radfahren und Seiltanzen. Der Stabilitätstetraeder bildet sich zwischen einer Unterstützungskante, die längs verläuft, und einer queren Oberkante, die als Lenkstange oder Balancierstange das Gewicht ausbalanciert.

Für die Lokomotionsorgane bedeutet all dies extreme Selektion auf Symmetrie, denn sie verbrauchen viel Energie, und Fehler addieren sich schnell zu "deviantem" Verhalten. In der sexuellen Selektion dient daher gute Symmetrie ("Schönheit") als wichtiges Kriterium, es wurde für Insektenflügel und die Beine von Rennpferden nachgewiesen.

6 Blickverhalten

Analog zur Lotrechten, die über die Somästhetik der Beinmuskulatur und der Fußsohlen die Haltungs-, Stellungs- und Lokomotionsmotorik steuert, ist die visuelle Orientierung zu Anderen ein Management der virtuellen "Beziehungslinie" zwischen beiden Körpern.

Da es den Blick-Abstand als leere Distanz für Tiere nicht gibt, wird aus der relativen Größe des Anderen zusammen mit den jeweilig sichtbaren Bodenelementen bis zum Ziel eine motorische Weg-Distanz geschätzt werden, wie dies J. Gibson (1982) beschreibt. Die Ausrichtung und die Korrekturen der Blickrichtung beruhen auf Körperbewegungen, mindestens der Augen und/oder des Kopfes.

In subjektiver Sicht schneiden sich die Symmetrieebene (der Weg) und die Horizontlinie (der Erdrand) im Ursprung (origo) unseres cartesianischen, rechtwinkeligen Koordinatensystems :

Rand des Blickfeldes = Körper (1)
Horizontlinie (3)
Objekt/Anderer (A)
Bodenelemente, Weg (W)
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Abb. 9

Wenn sich das Objekt/Andere bewegt, wird das Auge seitlich oder sagittal "nachgeführt":

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Abb. 9a
seitliches
Nachführen
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Abb. 9b
Annäherung =
Größerwerden
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Abb. 9c
Entfernung =
Kleinerwerden

Ernst Mach war vielleicht der erste, der in der Skizze "Das visuelle Ich" diese Situation veranschaulichte, allerdings mit dem eigenen Körper im Zentrum seiner Umwelt:
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Abb. 10

Der Blick auf den eigenen Körper ist allerdings eine stammesgeschichtlich späte Situation, entstanden durch zwei Krümmungsbewegungen der Körperachse im Laufe der Wirbeltierevolution: Bei den Fischen sind Lokomotion (der Vortrieb durch die Schwanzflosse) und visuelle Zielorientierung noch in einer Linie angeordnet. Bei der Landnahme durch die Vierbeiner schwenkt der Lokomotionsapparat um 90 Grad nach unten, Labyrinth und Auge müssen den Körper über den neuen flexiblen Hals fernsteuern (Vögel auch). Affen schließlich beugen die Körperachse im Halsbereich weiter, beim Sitzen vertikal nach unten. Die Extremitäten reichen nun nach vorne und gelangen damit zum ersten Mal auf Dauer ins eigene Blickfeld (siehe Abb. 10 und Kap. 12).

Bevor aber der eigene Körper ins Bild kommt, soll er den Rahmen für seine Umwelt abgeben.

Es ist der Körper, der Innen- und Außenwelt trennt und verbindet.

7 Exkurs: "Endo-neurologie"

Zur Geschichte der Darstellung von Weltbildapparaten

Legende: W = Welt, ext. Beobachter
              U = Umwelt (des Individuums), Medium
              K = Körper
              N = Nervensystem, m = motorischer, s = sensorischer Teil
              O, A = Objekt, Andere



Ausgangspunkt:
Wir leben in der Welt


Andere13.jpg
Abb. 11


Nach Dynamisierung
der Subjekt-Objekt-
Beziehung:
Andere15.jpg
Umwelt i.S.
v.Uexküll,
Gegengefüge,

Wirkwelt
Abb. 13
Nach Entdeckung der zentralen
Rolle des Nervensystems:
Andere14.jpg
Abb. 12


Nach operationaler Schließung
des Nervensystems
(V. Foerster, Maturana):
Andere16.jpg
Umwelt als
synaptischer
Spalt zw. Sensorik
und Motorik
Abb. 14

Eine Darstellung der subjektiven Sicht braucht eine relativistische Umstellung der Beteiligten (analog zur Beschreibung der "Endophysik" von O. Roessler 1992). Das ergibt dann:

Nach Verzicht auf ext. Beobachter
Endo-neuro-Standpunkt:
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Abb. 15
Nach Anerkennung Anderer
als zentral wichtig:
Andere18.jpg
Abb. 16

Begründung des Endo-neuro-Modells:

Das wahrnehmende und handelnde Subjekt (be)findet sich objektiv und subjektiv innerhalb des Bereichs des Nervensystems. Seine Sensoren und motorischen Synapsen umgeben es, als Interface zwischen Innen- und Außenwelt. Bei Säugetieren z.B. sind die taktilen Rezeptoren fast körperbedeckend angeordnet, sie repräsentieren das Interface als ausgedehnt und flächig geschlossen, wie einen Käfig. Am dichtesten sind sie in den Sinnesorganen angeordnet, als die Fenster, durch die sich das Individuum am meisten Umweltreizung beschafft.

Trotzdem umgibt der nichtneuronale Körper das Nervensystem vollständig. Die äußere Hautschicht vermittelt letztlich, als "weiteres" Interface, zwischen den Welten (beim Menschen zwischen mentalem Raum und Umwelt). Der Körper stellt sich als Ring oder Torus dar, er könnte gleichzeitig als geschlossen und offen, als konvex und konkav betrachtet werden (ob ein Interface konvex oder konkav ist, kann von einer Seite her nicht bestimmt werden).

Die Abb. 6 bis 8 sowie 16 zeigen nun, wie Lotrechte und Blick, die zwei verschieden gelagerten Teilprobleme der Verhaltenssteuerung, mit geringem sensomotorischen Aufwand richtungsstabil gehalten, d.h. in der Zeitachse kanalisiert werden können. In beiden Mechanismen umfassen, manipulieren Körper(teil)bewegungen die Beziehungsachsen.

Die Situation eines PC-Users bei der Arbeit stellt sich übrigens noch komplizierter dar:
Uv: virtuelle Umwelt
Av: virtueller Anderer
Andere19.jpg
Abb. 17

8 Lokomotion macht Geschichten

(Fortbewegung als Vor-gang, Pro-cedere, Pro-zeß, Fort-Schritt)

Tiere haben mit der Fortbewegung die ewige Suche gewählt. Unter allen Verhaltensweisen ist die Hin- und Fortbewegung, die gerichtete Lokomotion, die älteste und energieaufwendigste. Ihre Steuerung von der Zielvorgabe bis zum mechanischen Ablauf mußte zu allen Zeiten, in allen Individuen in unendlich variierenden Situationen erfolgreich verlaufen (Be-Weg-ung).

Die Summe aller Orte, die ein Individuum nacheinander aufsucht, ergibt seinen je eigenen Lebensweg. Nimmt man den Körperschwerpunkt als virtuellen Repräsentanten des ganzen Individuums, kann man die Bewegung dieses Punktes, die Kurve die er in Raum und Zeit zurücklegt, als Lebenslinie bezeichnen. Sie beschreibt von oben gesehen die aktuelle geographische Bewegungsrichtung des Individuums, seitlich gesehen zeichnet sie die Bodenunebenheiten, das Profil des Weges, nach (beim Menschen etwa in Bauchhöhe).

Im Sinne des Nerv-Muskel-Körper-Umwelt-Zusammenhanges produziert die Lokomotion nicht nur eine virtuelle Linie, sie reiht gleichzeitig und lückenlos die einzelnen Verhaltensepisoden hintereinander. Lokomotorik und -sensorik selektieren so den Weg als Folge von Situationen im Sekundenbereich aus der Umwelt, für das Individuum, aber auch für die Art und den (Wirbeltier-)Stamm.

So kann man sagen, auf dem Weg von den Fischen bis zum Menschen hätten die einzelnen Situationen als Episoden praktisch alle paar Sekunden gewechselt. Es hat sich deshalb bewährt, drei Zeitskalen zu konstruieren, von denen jede in der nächsten als Mikroelement enthalten ist:

1. Aktugenese, Situation, Ereignisgeschichte (cf. Kap. 2)
2. Individualgeschichte, Ontogenese (s. Lebenslinie)
3. Stammesgeschichte (Phylogenese) s. Abb. 18

Übrigens hat Höherentwicklung bei den Wirbeltieren bis zum Menschen wirklich stattgefunden. Fische steuerten durchs dreidimensionale Meer, Amphibien stiegen ans Land, Säugetiere hoben den Körper auf Stelzenbeine; Affen hoben die Vorderbeine, zogen den Vorderkörper in die Höhe, kletterten auf und in die Bäume, Hominiden hoben den Vorderkörper samt Armen permanent in die Höhe. Menschen schließlich schießen einander auf den Mond:

Andere20.jpg
Abb. 18

Lokomotion zieht sich als "Roter Faden" durch alle Geschichten, nicht nur durch die biologischen. Sofern sich eine Geschichte durch Raum und Zeit bewegt ("storyline"), wird sie explizit oder implizit nach dem elementarsten Bewegungsprogramm beschrieben, das wir haben.

Wenn es ein autobiographisches, ein "narratives" Gedächtnis gibt, läuft es über den Lokomotionsapparat, der funktionell nicht vom übrigen Körper getrennt werden kann.

Die "Reise des Helden" begann mit den ersten Tieren und deren Suche nach Nahrung, Schutz und Partnern. Sie endet, "vor-läufig", mit der Literatur, wo die Schreibenden mit ihren Vorderbeinen immer noch kleine motorische Spuren ziehen ...

Die älteste und wichtigste Bewegungsform der Wirbeltiere muß auch die Grundlagen für ihre Orientierungsparameter bieten. Erst die Körperschwerpunktsteuerung kann der Lokomotion "Sinn" geben, eine Koordination der Körper-Teilbewegungen "im Sinne" der stabilen Führung herbeiführen. Die resultierende Lebenslinie kann dann vom Auge und den mechanischen Sinnen kontinuierlich und synchron "mitgeschrieben" werden, als illustrierte Bewegungsmelodie. Den "Grund"-Rhythmus geben dabei die lokomotorischen Muskelaktionen mit wechselnden taktilen Hautsensationen.

Vestibularsystem und Taktilität werden ununterbrochen, "millisekündlich durch die Jahrzehnte" über den Bewegungszustand von Körper und (ge)wichtigen Körperteilen samt Erdwiderstand informiert und schalten sich niemals ab.

Die Hypothese dazu lautet: Solange das gesamte Körpergewicht dynamisch prozessiert wird (Lokomotion, aktive Haltung, Stellung), untersteht das ganzkörperliche senso-motorische Orientierungssystem dem Labyrinth, auch das Auge ge"horcht" dem Innenohr (E. v. Cyon 1908).

Sind Raum und Zeit bei Tier und Mensch gleich?

Tierische und spontan unbewußt menschliche Sensomotorik entsteht aus Bewegung, perzipiert Bewegung und reagiert darauf mit Bewegung. "Blindsehen" bei Affen und Menschen zeigt, daß auch ohne primäres Sehzentrum adäquat reagiert werden kann.

Woher kommen Raum und Zeit, wenn Bewegung zur Verhaltenssteuerung ausreicht? K. Lorenz sagte einmal sinngemäß, daß Raum und Zeit Unterkategorien von Bewegung seien. Das hieße, erst der Mensch hat sie durch Zerlegung von Bewegung gewonnen, sie sind nicht Grundkategorien, sondern unsere Beschreibungsweise der Urgegebenheit Bewegung.

Der Mensch hat sich Raum und Zeit konstruiert, Tiere kennen nur Bewegung.

9 Die flüchtige Gestalt

Im Anschluß an die "erste Sekunde" (s. o.) nun zum faszinierendsten und vielleicht wichtigsten Verhalten unserer Vorläufer, der Jagd.

Wenn in der Entwicklung zum Menschen die Beziehung zwischen Einzelindividuen oft in Jagen und Gejagtwerden bestand, ist auch unserem Nervensystem diese unbeschreibliche "mechanisch-kognitiv- emotionale Drei-Körper-Problem-Situation" funktionell tiefer verankert als jede andere.

Ob unsere Fischahnen jeweils größere Raubfeinde um sich hatten, ist nicht sicher, daß sie aber selber Räuber waren, schon. Für die ersten kleinen Säugetiere können wir jedenfalls in den Dinosauriern wichtige Verfolger vermuten (Drachenmythos), sicher wichtigere, als es Säbelzahntiger und Höhlenbären in der Menschwerdungsphase waren.

Die Verhaltenssteuerung bei der Jagd ist für Jäger und Gejagte derart komplex, daß die sensomotorischen Systeme zur Reduktion ihres Agierens auf Relevantes, also zu Konstanzmechanismen gezwungen werden: Die Lokomotionsbewegungen werden auf Automatik gestellt, d.h. Geländedetails nur im Notfall visuell beachtet. Im Blickfeld wird auch nur das Wichtigste stabilisiert. Für beide Teilnehmer ist das weder das detailgenaue Äußere des Anderen, auch nicht dessen (Körperteil-)Bewegungen (!), sondern die gezielte Manipulation der Beziehung zu ihm, d.h. das Erreichen bzw. Aus-den-Augen-"Verlieren" des Anderen. In extremer Bewegung, während sich Richtung und Profil des Weges permanent ändern, kann vom Anderen nur die mittlere anatomische Grundstruktur, die "flüchtige Gestalt", verfolgt werden.

Der eindeutig zentrierbare/permanent bewegte Rand des Anderen ist "die Gestalt" des Anderen.

Es soll hier nahegelegt werden, daß das Komplexitätsreduktions- Prinzip, das während voller Eigenbewegung die "Identität" des Anderen garantiert und seinen "visuellen Schwerpunkt" im Auge behält, unserem Gestaltprinzip in der Psychologie funktionell zugrundeliegt. Die Interaktion kann damit unter wechselnden Sicht-, Licht- und Projektionsbedingungen weiterlaufen, auch wenn der Andere nur unvollständig oder als (Teil)Umriß im Blickfeld bleibt.

Die Gestalt entspräche damit einem "permanenten Bestätigungsmechanismus im (dyadisch-)interaktiven Blickkontakt während großer sensomotorischer Beanspruchung".

10 Verfolgen: Die erste mimetische Fertigkeit

Die Neigung unseres NS, extern gesteuert zu werden, ist um vieles älter als die, Andere zu manipulieren. Der Begriff "Machiavellian Intelligence" (Byrne/Whiten 1988) bezeichnet nur letztere und läßt den "passiven" evolutionären Vorlauf der Jagdkontexte außer Acht.

Schon die frühesten Jäger unserer Stammesgeschichte koppelten ihre Sensorik an die Motorik der Beute. So konnten sie "on-line" jede kleinste Kursänderung des Verfolgten zur Organisation der eigenen Motorik einsetzen und waren damit erfolgreich:
Andere21.jpg
Abb. 19 (nach Driza/Cholewa 1985)

Das Nachmachen der Lebenslinie eines Tieres im sensomotorischen Verbund durch Andere soll "Mimesis Typ I" genannt werden. Eine Ähnlichkeit der annähernd parallelen Trajektorien ist nur für Dritte, externe Beobachter wahrnehmbar (Abb. 19). Ein Jäger macht ja nicht die Einzelbewegungen des Beutetieres nach - er hat ja meist eine andere Anatomie, sicher auch eine andere Motivation - , er koordiniert seine Bewegungen aber dergestalt, daß er wie durch ein unsichtbares Band von seiner Beute (an)gezogen erscheint. Die Beute wiederum muß ihre Konstanzmechanismen unter gemischt-entgegengesetzten Vorzeichen steuern, denn die Geländebedingungen kommen von vorne und der Verfolger von hinten.

Ein anderes Beispiel: Durch die "Blume" wird dem jungen Hasen gesagt, wo es lang geht. Der Schwanz des Muttertiers ist sein Führungselement, sein locus of control. Es gibt Tempo und Richtung vor, aber das Nachfolgen geschieht aus eigenem Erkennen und aus eigener Kraft. K. Lorenz hat auch Gänsekinder "angeführt", die auf seine Gestalt geprägt waren. Für Beobachter sieht es wie Kind-er-ziehen aus, aber ohne Zug und ohne Druck.

Das Fangen-Spielen jugendlicher Säugetiere zeigt vielleicht am besten die Untrennbarkeit von Sensorik, Motorik, Individuen, Phylo-, Onto- und Aktugenese: Die schnellen Folgen von Perspektiven-und Rollenwechseln, und bei Gefahr auch Strategiewechseln, erlauben es jedem Individuum, die phylogenetisch perfektionierten mimetischen Fertigkeiten in aktuellen (Lern-)Situationen einzuüben.

Bei der innerartlichen Konkurrenz (Definition der Konkurrenz: mehrere laufen zusammen auf ein Ziel) um Territorien, Nahrung, Sexualpartner, aber auch während Balz und Brutpflege, stehen baugleiche, oft verwandte Tiere in permanenter Wechselsteuerung.

Für die Semiotik ist mimetisches Verhalten, wie es bisher beschrieben wurde, nicht leicht zu definieren, da erst mindestens zwei Individuen zusammen das Phänomen hervorbringen. Die Vorgangsähnlichkeit könnte man "kinetisch-ikonisch" nennen, um der fast synchronisierten Doppelbewegung als einer Art Resonanzphänomen gerecht zu werden.

Was bei Tieren im sensomotorischen Verbund abläuft und im Schwarm hunderte Individuen synchronisieren kann, ist beim Menschen vor allem in zwei Bereichen noch wirksam: beim Tanz und im militärischen Drill (McNeill 1995). Außerdem kann man bei Boxkämpfen das Phänomen der Ideomotorik beobachten, man sieht die Zuschauer mit ihren Körpern "mitgehen".

Imitation und Pantomime finden normalerweise nicht im sensomotorischen Verbund mit dem Modellverhalten statt und sind Fähigkeiten des Nachmachens aus dem Gedächtnis. Bevor wir solche Produkte "fertigen" Menschseins betrachten, gilt es, den Übergang von den Vierbeinern zu den Vierhändern zu beschreiben, die Affenwerdung.

11 Der Griff

Als Schrittmacher für den Lauf der Wirbeltierevolution waren die Extremitäten immer gewohnt, den ganzen Körper zu bewegen, sei es als steuernde, rudernde Flossen oder als schiebende, laufende, kletternde Beine.

Sie "veränderten" ihre Umwelt durch die Aufeinanderfolge aufgesuchter Nischen.

Für Fische war und ist die Erde äußerst nachgiebig und homogen, für Landbewohner ist sie teils nicht vorhanden (Luft), teils relativ(istisch) unbeweglich, stabil (Erdoberfläche).

Für Primaten schließlich ist der Untergrund schwankend geworden: Bäume sind zwar formfest, aber ihre Äste werden mit Distanz vom Boden zunehmend schmal und biegsam.

Da Äste für die Beine von Tieren "teilweise verdeckte, glatt-elastische, in alle Raumrichtungen geneigte und gekrümmte Unterstützungslinien zwischen lauter Abgründen" darstellen, wurde zu ihrem Besteigen ein neuer Kontaktmodus hervorgebracht, der Griff.

Seit Fischzeiten hat das Maul der Wirbeltiere seine Koppelungs- und Fixationsaufgaben erfolgreich gelöst. Nur in seltenen Fällen demonstrieren Vogelschnäbel die (instabile) Zwei-Punkt-Zange. Bei anderen Tiergruppen drücken Zähne, Zunge, Gaumen und Lippen in komplexen Raummustern zu. Die "Brechzange" der hundeartigen Tiere zeigt übrigens den Stabilitätstetraeder für harte Objekte: vier Druckkanten, je zwei an einem Zahn des Ober- und Unterkiefers, einander überkreuzend.

Hände entwickeln darüber hinaus qualitativ und quantitativ neue Eigenschaften:

— Exploration: Sie sind Sinnesorgane, gleichzeitig fern- und kontaktgesteuerte     Sonden, "Meßfühler".
— Delegation, relative Autonomie: Ihr Wirksystem arbeitet dem Körper     gegenüber (1) in variabler Distanz, (2) cardanisch, d.h. fast in jeder Lage,     und (3) mit lockerer oder stangenartig steifer Verbindung.
— Kooperation: Mit Maul und Schwanz können bis zu sechs Koppelungen im     Raum installiert werden.
— Manipulation: Erst zwei Stabilitäts-Systeme können ein Objekt frei bewegen,     z.B. mehr als 360 Grad rotieren.

Als Koppelungsmodus arbeitet der Griff "schließlich" mehr als mechanisch, nämlich als "leere" oder "offene Hydraulik". Greifen ist stufenlos regelbar in

— Richtung, Geschwindigkeit und Dauer,
— Spannweite ("Umarmung" bis zum Kapillarspalt zwischen zwei Finger-
    kuppen),
— Umschließungsgrad (Haken bis Öse, Mulde bis geschlossene Höhle),
— Reibung (Hautfeuchtigkeit), und
— Druckverteilung (feinste Regelung durch mehrere Typen von     Rückmeldesensoren).

12 Alles ruht?

Die Sensomotorik für Baumbewohner wie Primaten spielt sich überwiegend nah und frontal ab, weil wichtige Umweltstrukturen in allen anderen Raumrichtungen "wegfallen":

— Äste bieten Lokomotionsangebote, die nach "vorne" divergieren oder zur     Umkehr zwingen,
— Blätter bzw. Nachtaktivität schränken den Sehraum ein,
— Bäume sind funktionelle Sackgassen für größere Raubtiere.

Das "Gesicht", aber vielleicht noch mehr die aufgerichtete Körperhaltung machen Primaten uns ähnlich. Durch überwiegende Gewichtsverlagerung zwischen die Hinterbeine und Sitzen scheinen schon die Affen die berühmte Aufrichtung grund-"setzlich" vollzogen zu haben.

Beim Sitzen ist die Labyrinthfunktion zwar nicht "entspannt" wie beim großflächig-stabilen Liegen, aber doch von leitenden und tragenden Koordinationen entlastet, eben "sediert" (=beruhigt).

Die Folgen des Lokomotionsverzichts sind sensationell: Die Welt steht still. Ruhe.

Eine gewagte Hypothese: Der Eindruck einer ruhigen, feststehenden Außenwelt, "die Situation", wie wir Menschen sie erleben, begann mit dem Sitzenbleiben der Affen.

Begründung: Das bis zu den Primaten einheitlich arbeitende System zur Körperbewegung (Blicklinie in Verlängerung der Körperachse, siehe Kap. 6) kann sich im Sitzen funktionell aufspalten: Hinterbeine und das Hinterteil bilden eine Unterstützungsfläche, auf der der Körper mit der Erde verschmilzt. Das Labyrinth, das bisher den Körper indirekt manipuliert (besser pedipuliert) hat, braucht erstens nur mehr den Kopf, also sich selber zu balancieren. Es kann zweitens den ganzen Körper samt Schwerpunkt fast in einer Linie unter sich kontrollieren. Diese Anordnung entläßt die Vorderbeine und Augen aus dem Körpermanagement.

Erst die Entlastung der Sensomotorik beider Systeme, Augen und Vorderbeine, kann zwischen diesen ein relativ autonomes, rekursiv geschlossenes Nervensubsystem hervorbringen. Der "Auge-Hand- Komplex" schafft qualitativ neue (vom Boden abgehobene, freie, absolute) sensomotorische "Eigen"-schaften, die auch beim Aufrechtgehen erhalten bleiben. Sind sie der Beginn eines "Identität"-Erlebens im Sinne von Selbsterkenntnis des eigenen Körpers? Das Subjekt muß doch zuerst Objekt werden, um unter Objekten zum Besonderen (= eigenen) zu werden. Hände sind Objekt und Subjekt(-teile) zugleich.

Mit den Hominiden ist für die Savanne eine Verhaltens-Chimäre entstanden: Die obere Körperhälfte ist damit beschäftigt, die (Dinge aus der) Welt zwischen Augen und Händen auf neue Art zu begreifen. Die untere will mit dem alten, nie vergessenen Laufprogramm wieder Anschluß an flüchtige Bodenbewohner gewinnen...

13 Mimesis Typ II

Die Suche, Entdeckung und Einverleibung von Eßbarem war bis zu den Primaten "reine Kopfsache", Nase, Ohr und Auge haben das Maul zum Ziel gesteuert. Der Körper fungierte dabei als gleichsam ausgelagerter, ferngesteuerter Servomechanismus.

Die Verfolgung von Kleinlebewesen mit Arm und Hand ist sensomotorisch und emotional eine völlig neue Art von Jagd, ein Neu-an-"Fang", das Modellverhalten für "Mimesis Typ II":

— Das Gesamtkörper-Nachfolgeprogramm (Mimesis Typ I) wird innerhalb des     Körpers delegiert, die Orientierungs-Kontrolle durch den Kopf bleibt (ruhig),     aber das Zuschnappen ist Sache der Hand.
— Meist macht nur eine Hand den An-griff, Händigkeit ist eine Folge der Jagd,     bei der normalerweise ein bewegliches Ziel die sensorischen und
    motorischen Prozesse kon-zentriert.
— Da der Energieaufwand der Armbewegung im Vergleich zur Ganzkörperjagd     gering ist, ist auch die Motivation geringer: In Reichweite der Arme kann     beliebig gekoppelt und entkoppelt werden, auch ohne die emotionale
    Balance zu verlieren.
— Das Vorausschicken der Arme, ihre Vorläufigkeit, d.h. freie Reversibilität, in     allen Richtungen läßt echtes Probehandeln zu. Das Testen von Ästen auf     Festigkeit oder das Heranholen von attraktiven Früchten stehen meist nicht     unter starkem Zeitdruck.
— Die eigenen Bewegungen erhalten Handlungs-Spiel-Raum, der Zeitrahmen     wird disponibel, ein Bereich der Überlegung, aber auch der Willkür eröffnet     sich.
— Die Greifdistanz ist für Tiere die erste direkt nachvollziehbare Raumdistanz,     sie kann später in der Menschwerdung durch Werfen vergrößert werden.

Eine weitere Hypothese: Die Konzentration auf das Beute-Hand-Geschehen läßt den Hintergrund, der mit dem Körper ruht, vergessen. Die Greifbewegungen mögen dann unversehens auf dem eigenen Körper oder auf dem des Nachbarn landen. Die manuelle Jagd kann sich so zur sozialen Fellpflege ("grooming") verbreitern. Im Partner wird durch die zarten Hautreize eine beruhigende, ruhigstellende Hormonausschüttung ausgelöst.

Soziales Berühren scheint doch, zumindest für uns Menschen, ambivalent besetzt: Annäherung zum (Haut-)Kontakt muß erst als Nichtangriff gekennzeichnet werden (K. Lorenz 1963). Da aber An-greifen (phylogenetisch erst mit der Primatenhand entstanden) ontogenetisch mit dem Klammern nach der Geburt beginnt, wird auf taktiler Kontaktbasis sicher früher Vertrauen gelernt als Mißtrauen (Eibl-Eibesfeldt 1984).

Bei sozialen Berührungen können weder das Auge noch die Pfote/Hand allein zwischen den eigenen und fremden Körperteilen unterscheiden, erst die andere Seite, die Sensibilität des be-troffenen Hautareals, entscheidet. Ohne frühes Wissen vom eigenen Körper ist das entscheidende Identitätsgefühl schwer zu erklären.

Die Identifikation von "eigen" (im Unterschied zu "fremd") ist notwendig subjektiv.

Wie kommen wir dazu?

14 "Woman is ... the first real mover" (C. Paglia 1990)

Da der ontogenetischen Frühsituation eine echte Grundlage fehlt (Säugetiere beginnen ihr Leben schwebend, als schwerelose, blinde "Amnionauten"), stülpen sich als Ersatz für den noch nicht vorhandenen Bodenkontakt zwei Hautareale am embryonalen Kopf nach innen und bauen sich kleine "Erdmodelle" (Statolithen, allseitig sinneszellenerregend fixiert). Zusammen mit den cartesianisch-dreidimensional gebauten Bogengängen liefern sie als Lage- und Kinetikdetektoren die ersten Impulsmuster an das selbstorganisierende Nervennetz.

Dieses braucht für das Anlegen seiner späteren Funktionen viele "Informationen", sprich Abwechslung, und wenn möglich in sinnvoller, gemusterter Komplexität. Schön wäre ein Verhaltens-Lehrmeister in utero.

Wir alle hatten einen solchen, die Alltagsbewegungen des Mutterkörpers: Sie gehen den eigenen, ebenfalls lageverändernden Muskelzuckungen des Embryos a priori voran.

Auch am Beginn des neuronalen Lebens, in der "Ontogenese", wirkt also eine andere individuelle Motorik als Organisator der Neurodynamik. Man könnte sie Mimesis Typ III nennen:

Der Fetus macht als passiv bewegter Körperteil alle Körperbewegungen der Mutter mit, ihren Gehrhythmus, ihre Art zu tanzen, zu sitzen, ihre Umdrehungen im Schlaf. Bevor wir denken, haben wir eine mehrmonatige Reise im physikalischen Schwerpunkt der Mutter mitgemacht und mitgelebt. Wanderungen, Auto- und Schifahrten, Stiegensteigen, kaum eine menschliche Bewegungsweise ist uns nicht vertraut, bevor wir in die Lage kommen, einen Blick auf die Welt zu werfen oder mühsam den ersten Schritt zu tun.

Ein vorgestellter Synchronvergleich der (taktil-)labyrinthären Afferenzen von der Mutter und ihrem Fetus, ihrer kinetischen "Fahrtenschreiber", ergäbe einander ähnliche, allerdings nicht identische Musterfolgen. Der körperzentral gelegene kindliche Kopf liefert im Vergleich zu dem der Mutter nur Rumpfdaten, globale Übereinstimmungen wären trotz dieses relativen Filtereffekts zu erwarten.

Die Erfahrenslinie des Labyrinths vereint doch alle relevanten Hebe-, Senk- und Lateralbeschleunigungen sowie Rotationen des gesamten Trägersystems. Kann sie auch "ohne Körper" die für jedes Individuum exklusive, einzigartige Bewegungsspur in Raum und Zeit, die Lebenslinie, darstellen? Die Kopfposition einer Person stellt den wandernden Schnittpunkt der physikalischen, biologischen und soziokulturellen Welt dar, weil sie in jedem Moment allen "herrschenden" Bedingungen (physikalischen und biologisch-organischen Gesetzmäßigkeiten, individuellen psycho-sozialen Einflüssen) gehorcht...

Weiters wäre anzunehmen, daß kleinere technische Transportmittel wie Auto, Boot oder Flugzeug vorgeburtliche Bewegungsmuster annähernd simulieren und primär beruhigend wirken können. Die nachgeburtlichen visuellen Eindrücke könnten die labyrinthären Vor-erfahrungen bildhaft illustrieren und damit bewußtseinsfähig machen, z.B. für unsere archaischen Schwebeträume.

15 Du hast dich selbst längst erkannt

Da dem Hautorgan zu Beginn der Ontogenese ein Dialog mit Anderen verwehrt bleibt (außer bei Mehrlingen), tritt es, sanft durch die Kuppel der Eihäute unterstützt, mit sich selbst in Kontakt. Wenn mit der Körperdifferenzierung die sprossenden Extremitäten lang genug geworden sind, um rekursiv auf den Körper zurückgebeugt zu werden, und wenn das Nervennetz hautflächendeckend geworden ist, kommt es zur "Selbst"(=Doppel)-Berührung.

Anders als das Bewegungsmuster nachvollziehende Labyrinth beginnt die Hauttaktilität, ein räumliches Weltmodell aufzubauen, und zwar mit den Objekten die vor-handen sind, mit den eigenen Körperteilen.

Eine letzte Hypothese: Die "Homunkuli" in den sensomotorischen Cortices entstehen ohne Störung von außen, intrauterin, in den praktisch pausenlosen Kontaktereignissen der Selbstumarmung. Sie sind am größten, d.h. am detailreichsten dort, wo anatomiegemäß die häufigsten Kontaktereignisse statt"finden": zwischen Händen und Gesicht.

Die ontogenetische Koordination der Greifmotorik mit rein taktiler Perzeption ist die Innenseite des phylogenetischen Grooming-Programms. Sie ist erst für Säugetiere notwendig, weil sich erst bei diesen unsere kleinsten Lehrmeister, parasitische Andere, im Fell verstecken können, also unsichtbar wurden.

Um nach der Geburt einen Reizpunkt (Mückenstich) auch blind zu orten, z.B. durch gezieltes Kratzen, müssen vorher alle potentiell betroffenen Reizpunkte einzeln ansteuerbar sein. Der "Zugriffsplan" sind die Homunkuli, die (späteren) Meßfühler Hände nehmen schon bei den ersten Gelegenheiten am eigenen Körper das sensomotorische Maß aller (späteren) Dinge. Auch das Auge wird, etwa in der späteren Greifpraxis, primär dem "blind"-exakten sensomotorischen Wissen zu Diensten sein, vor dem projektiv-überlegenden Distanzschätzen.

Die Unterscheidung zwischen eigenen Körperteilen und Fremdstrukturen ist qualitativ eindeutig: letztere haben nur ein taktiles "Echo" (seitens des Fühlers).
Die innere Eihaut als äußerer Tasthorizont ist zwar in allen Richtungen vor-handen, sie ist eine Biosphäre von innen, aber doch ein konkaver, glatter und endloser Widerstand ohne faßbare Strukturen. Als Trost für die "ungreifbare" Mutter gibt es ein echtes erstes Objekt der Ontogenie, die Nabelschnur. Sie hat die richtige Größe und genügend Freiheitsgrade für Manipulation und gibt auch nur ein taktiles Echo.

Überschreitungen des Tasthorizonts, "Übertritte", können nach außen durchschlagen, von anderen gespürt werden. Sie fordern von Mutter und Dritten die existentiell wirklichsten persönlichen Dimensionen ein: (an)erkannten und selbst verteidigten Eigen(spiel)Raum. Vertreibung daraus ist ab diesem Zeitpunkt Kampf.

Epilog

Eine Wissenschaft beschreibt die Wege des Lebens, auch den Weg durch die Jahrhundertmillionen bis zum Menschen: die Biologie.

Viele Wissenschaften beschreiben den Menschen: Anthropologie, Medizin, Psychologie, Soziologie, "Hirn"forschung, Linguistik, Ethnologie, Semiotik. Eine allerletzte Hypothese:

Das Interface aller Wissenschaften vom Menschen, der gemeinsame Nenner, ist die Biologie.

Danksagung

Ich möchte L. Deecke, K. Edlinger, W. Gutmann, D. Ploog, R. Riedl, G. Schweigart, M. Wimmer und E. Vanecek für kritische Anmerkungen, A. Schmitt für seine hilfreiche Begleitung und G. Withalm & J. Bernard für die reichliche Überarbeitungszeit danken. Dies ist daher auch der Ort festzuhalten, daß es sich inhaltlich seit ca. 1994 gegenüber dem Vortrag aus 1990 um eine de facto neue Version handelt.

Literatur

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Byrne, R. & Whiten, A. (1988). Machiavellian Intelligence. Oxford: Clarendon Press
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Cyon, E. v. (1908). Das Ohrlabyrinth als Organ der mathematischen Sinne für Raum und Zeit. Berlin: Springer
Driza, M & Cholewa, G. (1985). Leben und Umwelt. Lehrbuch für Biologie und Umweltkunde. Band 1 für die 1. Klasse AHS, für die 1. Klasse HS. Salzburg: Verlegergemeinschaft Neues Schulbuch
Eibl-Eibesfeldt, I. (1984). Die Biologie des menschlichen Verhaltens. München: Piper
Foerster, H. v. (1986). Sicht und Einsicht. Braunschweig: Vieweg
Fürlinger, A. (1987). "Ortungen. Raum — Auge — System". In: Bernard, J. (Hg.). Semiotica Austriaca. Wien: ÖGS, 56-60
Fürlinger, A. (1989). "Eins-Zwei-Drei". In: Koch, W.A. (Hg.). Das Ganze und seine Teile. Bochum: Brockmeyer, 89-96
Gibson, J.J. (1982). Wahrnehmung und Umwelt. Wien: Urban & Schwarzenberg
Granit, R. (1977). The Purposive Brain. Cambridge, MA-London: The MIT Press
Gutmann, W.F. (1988). "The hydraulic principle". American Zoologist 28: 257-266
Lorenz, K. (1963). Das sogenannte Böse. Wien: Dr. G. Borotha-Schodler
Maturana, H. (1982). Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Braunschweig: Vieweg
McNeill, W. (1995). Keeping together in Time. Cambridge, MA: Harvard University Press
Paglia, C. (1990). Sexual Personae. New York: Vintage
Roessler, O. (1992). Endophysik. Die Welt des inneren Beobachters. Berlin: Merve Verlag
Uexküll, J. v. (1928). Theoretische Biologie. Berlin: J. Springer

 

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